Probleme mit bestehenden Leitlinien
Leitlinien gewinnen in der Gesundheitsversorgung weltweit zunehmend an Bedeutung. Erfahrungen aus nationalen wie internationalen Projekten zeigen jedoch, dass der Einsatz von Leitlinien im medizinischen Alltag und ihr Einfluss auf die Versorgungsqualität begrenzt sind. Trotz des (formal) hohen gesundheitspolitischen und wissenschaftlichen Anspruchs an Leitlinien, Schlüsselinstrumente zur Qualitätsförderung im Gesundheitswesen zu sein, ist ihre Akzeptanz in der täglichen Praxis gering und ihr Einfluss auf die medizinische Versorgung verbesserungsbedürftig.
Zahlreiche Studien und systematische Übersichtsarbeiten haben sich mit der Analyse der Ursachen dieser Diskrepanz beschäftigt und primär die Hintergründe der unzureichenden Umsetzung im praktischen Alltag adressiert. Damit Leitlinien wirksam die Qualität der Versorgung sichern und verbessern, müssen sie jedoch nicht nur formal eine hohe methodische und fachliche Qualität besitzen, sondern insbesondere hinsichtlich ihrer Empfehlungen transparent und die zugrunde liegenden Entwicklungsprozesse rational nachvollziehbar sein.
Gerade in jüngster Zeit sind mit der S3-Leitlinie LONTS und der Nationalen VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz zwei schmerztherapeutisch relevante Bereiche tangierende Leitlinien erschienen, deren Aussagen weder den praktischen Erfahrungen engagierter Schmerztherapeuten (d.h. dem in der Praxis gewonnenen und bewährten Erfahrungsschatz) entsprechen, noch die Erwartungen (d.h. den individuellen Wünschen, Zielen und Besonderheiten) Betroffener berücksichtigen.
Die in diesen Leitlinien formulierten Empfehlungen lassen sich nur schwer mit dem vorgenannten Ziel einer Verbesserung der medizinischen Versorgung in Einklang bringen. Vielmehr werfen beide Leitlinien aufgrund intransparenter oder fehlerhafter Darstellungen der ihren Aussagen letztlich entscheidend zugrunde liegenden externen Evidenz, inkongruenter Wertung vergleichbarer Evidenzdaten für unterschiedliche Wirkstoffe bzw. Verfahren und offensichtlich Eminenz-dominierten Empfehlungen ganz grundsätzliche Fragen zur Qualität derartiger Leitlinien auf und stellen damit das Gesamtkonzept der Leitlinienentwicklung, nicht nur für Deutschland, in Frage.
Zwei sich eigentlich gegenseitig ausschließende Faktoren sind es, die in den genannten Fällen nicht nur die ärztliche Akzeptanz dieser Leitlinien beeinflussen, sondern auch ernsthafte Zweifel an ihrer Sinnhaftigkeit aufkommen lassen: zum einen die Fokussierung auf die Ergebnisse randomisierter kontrollierter Studien (Dominanz der externen Evidenz) und zum anderen der Einfluss einiger/weniger Experten (Dominanz der Eminenz) - eine unheilige Allianz.
In der täglichen Praxis muss der einzelne Arzt nach gängiger (Rechts-) Auffassung stets prüfen, ...
- ob es für den konkreten Fall Leitlinien gibt,
- ob diese Leitlinien dem medizinischen Standard entsprechen,
- ob er diesem folgen muss oder ob im konkreten Fall sachliche Gründe oder der Patientenwille für ein abweichendes Vorgehen sprechen und
- wie er sich im Falle „konkurrierender“ d. h. unterschiedlicher Leitlinien verschiedener Fachgesellschaften verhalten soll.
Dabei muss/darf/kann er berücksichtigen, dass …
- Leitlinien für Ärzte rechtlich nicht bindend sind,
- Leitlinien weder eine haftungsbegründende noch eine haftungsbefreiende Wirkung haben,
- der Verstoß gegen Leitlinien per se nicht die Vermutung eines sorgfaltswidrigen Handelns belegt!
Probleme im täglichen Umgang mit Leitlinien ergeben sich vorwiegend durch Unkenntnis im Umgang mit Leitlinien aber auch durch unsachgemäß erstellt bzw. angewandte Leitlinien.
Kernprobleme diesbezüglich sind …
- Fokussierung auf die externe Evidenz
- Dominanz der Eminenz
- Medico-legale Aspekte
- Inadäquate Leitlinien
- Selbstbindungsgefahr
- Leitlinien als Ersatz von Gutachten
- Leitlinien als Ökonomisierungsinstrumente